Rotkäppchen Teil 53
 
Rotkäppchen
             Wie der Moralist es seinen Kindern erzählt

Es war einmal in einem Dorf ein kleines Mädchen, das hübscheste, das
man sich vorstellen konnte; seine Mutter war ganz in das Kind
vernarrt, und noch vernarrter war seine Großmutter. Diese gute Frau
ließ ihm ein rotes Käppchen machen, und weil ihm das so gut stand,
nannte man es überall nur Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine
Mutter, die gerade Fladen gebacken und zubereitet hatte, zu ihm: »Sieh
einmal nach, wie es deiner Großmutter geht, denn man hat mir gesagt,
sie sei krank. Bring ihr einen Fladen und diesen kleinen Topf Butter.«

Rotkäppchen lief sogleich davon, um zu seiner Großmutter zu gehen,
die in einem anderen Dorf wohnte. Als es durch einen Wald kam, traf es
den Gevatter Wolf, der große Lust hatte, es zu fressen; aber er wagte
es nicht wegen einiger Holzfäller, die in dem Wald waren. Er fragte
es, wohin es gehe. Das arme Mädchen, das nicht wusste, dass es
gefährlich war, stehen zu bleiben und einem Wolf zuzuhören, sagte zu
ihm: »Ich besuche meine Großmutter und bringe ihr einen Fladen und
einen kleinen Topf Butter, die ihr meine Mutter schickt.« »Wohnt sie
denn sehr weit?« fragte der Wolf.

»Oh ja«, sagte das kleine Rotkäppchen, »es ist noch ein Stück hinter
der Mühle, die Ihr da unten seht, im ersten Haus vom Dorf.« »Na
schön!« sagte der Wolf. »Dann will ich sie auch besuchen. Ich gehe
diesen Weg hier, und du gehst den anderen Weg da - mal sehen, wer eher
da ist.« Der Wolf lief aus Leibeskräften den Weg, der kürzer war, und
das kleine Mädchen ging den längeren Weg, wobei es seine Freude daran
hatte, Haselnüsse zu sammeln, Schmetterlingen nachzujagen und Sträuße
aus den Blümchen zu binden, die es fand. Der Wolf brauchte nicht
lange, um zum Haus der Großmutter zu gelangen. Er klopfte an: poch,
poch.

»Wer ist da?«

»Ich bin Euer Töchterchen Rotkäppchen«, sagte der Wolf, indem er seine
Stimme verstellte, »und bringe Euch einen Fladen und einen kleinen
Topf Butter, die Euch meine Mutter schickt.«

Die gute Großmutter, die im Bett lag, weil sie ein wenig krank war,
rief ihm zu: »Zieh den Pflock, dann fällt der Riegel.«

Der Wolf zog den Pflock, und die Tür ging auf. Er stürzte sich auf die
gute Frau und verschlang sie im Nu, denn er hatte schon seit über drei
Tagen nichts gegessen. Darauf schloss er die Tür wieder und ging hin
und legte sich in das Bett der Großmutter, um dort auf das kleine
Rotkäppchen zu warten, das einige Zeit später kam und an die Tür
klopfte: poch, poch.

»Wer ist da?«

Als Rotkäppchen die rauhe Stimme des Wolfs hörte, hatte es erst Angst,
aber weil es meinte, die Großmutter sei erkältet, gab es zur Antwort:
»Ich bin Euer Töchterchen Rotkäppchen und bringe Euch einen Fladen und
einen kleinen Topf Butter, die Euch meine Mutter schickt.«

Der Wolf rief ihm zu, indem er seine Stimme ein wenig sanfter machte:
»Zieh den Pflock, dann fällt der Riegel.« Rotkäppchen zog den Pflock,
und die Tür ging auf.

Als der Wolf sah, dass es hereinkam, versteckte er sich im Bett unter
der Decke und sagte zu ihm: »Stell den Fladen und den kleinen Topf
Butter auf den Backtrog und leg dich zu mir.«

Das kleine Rotkäppchen zieht sich aus und geht hin und legt sich in
das Bett, wo es zu seinem aller größten Erstaunen sah, wie seine
Großmutter ohne Kleider beschaffen war. Es sagte zu ihr:

»Großmutter, was habt Ihr für große Arme!«

»Damit ich dich besser umfangen kann, mein Kind!«

»Großmutter, was habt Ihr für große Beine!«

»Damit ich besser laufen kann, mein Kind!«

»Großmutter, was habt Ihr für große Ohren!«

»Damit ich besser hören kann, mein Kind!«

»Großmutter, was habt Ihr für große Augen!«

»Damit ich besser sehen kann, mein Kind!«

»Großmutter, was habt Ihr für große Zähne!«

»Damit ich dich fressen kann!«

Und mit diesen Worten stürzte sich der böse Wolf auf Rotkäppchen und
fraß es.


Moral

Hier sieht man, dass ein jedes Kind und dass die kleinen Mädchen (die
schon gar, so hübsch und fein, so wunderbar!) sehr übel tun, wenn sie
vertrauensselig sind, und dass es nicht erstaunlich ist, wenn dann ein
Wolf so viele frisst. Ich sag ein Wolf, denn alle Wölfe haben beileibe
nicht die gleiche Art: Da gibt es welche, die ganz zart,
ganzfreundlich leise, ohne Böses je zu sagen, gefällig, mild, mit
artigem Betragen die jungen Damen scharf ins Augefassen und
ihnen folgen in die Häuser, durch die Gassen Doch ach, ein jeder weiß,
gerade sie, die zärtlich werben, gerade diese Wölfe locken ins
Verderben.
 
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