Rotkäppchen und der Fuchs
Es war einmal eine Mutter, die hatte eine Tochter, welche allerliebst anzusehen war. Und da das Mädchen am liebsten ein kleines rotes Käppchen trug, welches Großmutter ihm zum letzten Geburtstage geschenkt hatte, wurde es allgemein "das Rotkäppchen" gerufen. Eines Tages nun litt die Mutter an Brechdurchfall. Da sie an diesem Tag den Wald bis zum Einbruch der Finsternis nicht durchqueren hätte können, ersuchte sie Rotkäppchen, Wein und Whisky zur Großmutter zu bringen, die in einem einsamen kleinen Häuschen am anderen Ende des unheimlichen Gehölzes lebte. "Aber nasch ja nicht wieder aus den Flaschen", ermahnte die Mutter das Rotkäppchen, gab ihm einen Klaps auf den Po und suchte wieder die Toilette auf.
Zuvor aber drehte sie sich noch um, rief das Rotkäppchen, das bereits leichtfüßig enteilen wollte, zurück und sprach in sorgenvollem Ton: "Gib gut acht, Rotkäppchen, dass Dir nirgends der böse Wolf auflauert. Du weißt ja, der frisst alles, ob jung ob alt, und er kennt auch mit dir keinen Pardon! Wenn du ihn siehst, dann rede auf keinem Fall mit ihm, hörst du, Rotkäppchen, auf gar keinen Fall rede mit ihm!" Damit hatte es die Mutter nun wirklich eilig, und das Rotkäppchen sprang davon, indem sie der Mutter zurückrief: "Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich bin ja schon groß!"
Es war ein wunderschöner Tag an diesem Tag, und Rotkäppchen genoss es sehr, unter den freundlichen Bäumen dahinzueilen. Das Mädchen nahm diesmal auch, weil es so warm war, das rote Käppchen ab und ließ dazu die blonden Haare fliegen. Bevor es zur Großmutter kam, würde es das Käppchen schon wieder rechtzeitig aufsetzen, es war ja ein Geschenk von ihr. Rotkäppchen war guter Dinge und dachte nicht im entferntesten an den Wolf. Als es aber hinter einer Weggabelung ganz plötzlich ein sonderbares Geräusch vernahm, kam ihr, eingedenk der mütterlichen Ermahnungen, sogleich der Wolf in den Sinn und es verbarg sich hinter einem Baum. Es war aber nicht der Wolf, es war der Fuchs, der auf den Weg trat und sie aus kleinen Augen anblitzte.
Er hatte Rotkäppchen sofort hinter dem Baum entdeckt, weil er einerseits über eine hervorragende Nase verfügt und weil andererseits das blonde Haar hinter dem Stamm hervorleuchtete wie eine Reklametafel in einer frühabendlichen Kleinstadtgasse. (Hätte Rotkäppchen doch ihr Käppchen nie abgelegt!) Das gute Mädchen war erleichtert, als es den Fuchs sah.
"Oh, und ich dachte schon, es wäre der böse Wolf!"
Damit sprang es unbesorgt hinter dem Baumstamm hervor und setzte nach einem artigen Gruß seinen Weg fort. Von Füchsen hatte die Mutter ja noch nie etwas gesagt. Der Fuchs aber streckte seine Rute, reckte den Kopf vor und ließ zwei Reihen schneeweißer Zähne blicken. Dann machte er einen Satz auf das Mädchen zu und packte es. Rotkäppchen war so überrascht, dass es nichts von dem mitbekam, was ein hungriger Fuchs, seiner inneren Natur gehorchend, mit einem Menschenkinde tut, wenn eine Schar junger hungriger Mäuler daheim seit Tagen schon auf Nahrung wartet. Er nahm sogar den Korb mit dem Kuchen mit, sollten seine Kinder doch auch einmal einen süßen Nachtisch haben! Es war einfach ein wundervoller Tag für Füchse.
Die zwei Flaschen und das rote Käppchen ließ er am Wegrand zurück So wartet die Großmutter noch immer auf ihr Stärkung; und niemand weiß, ob sie das bis zum heutigen Tag tatsächlich überlebt hat. Das rote Käppchen fand einige Tage später der Jäger, der dem Wolf nachstellt. Er brachte es, nachdem er sich zuvor am Inhalt der gleichfalls zurückgelassenen Flaschen gütlich getan hatte, der trauernden Mutter nach Hause.