Rotkäppchen Teil 28
 

Rotkäppchen - Interpretation eines Volksmärchens

"Rotkäppchen" gehört zur Gattung der Warn- und Schreckmärchen, ebenso wie zum Beispiel "Der Wolf und die sieben Geißlein". Beide Male verkörpert der Wolf das elementar Böse, beide Male findet das Märchen (bei Grimms) einen milden Ausgang. Rotkäppchen ist nicht der Feder eines Autors entsprungen, sondern durch das Volk mündlich über Jahrhunderte hinweg weitererzählt worden. Niedergeschrieben wurde es zum ersten Mal von Perrault, bei den Brüdern Grimm findet es sich bereits in der ersten Ausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" (1812).

Das Märchenfigurenensemble zeichnet sich durch seine einfache und prinzipienhafte Besetzung aus: Rotkäppchen ist die weibliche Hauptfigur, Mutter und Großmutter stehen für die erziehende Welt. Der Jäger als einzige männliche Figur vertritt das männliche Prinzip des Beschützers vor dem Bösen, hier verkörpert durch den Wolf, der Rotkäppchen verführt. Alle Gestalten werden nur umrisshaft vorgestellt, wichtig ist ihre symbolische Bedeutung. Auch die Szenerie gestaltet sich schemenhaft (Dorf, Wald, Blumenwiese, Haus der Großmutter) und wird auf die ihr zugewiesenen Funktion reduziert. Wirklichkeit und Realität werden miteinander vermischt; es entsteht eine neue Welt mit Symbolcharakter. Rotkäppchen ist nicht im geringsten verwundert, dass der Wolf mit ihr spricht und sogar weiß, wen er vor sich hat. Er ist ein Wesen mit Seelenleben und Intellekt. Diese Personifizierung eines Tieres zeigt die "Eindimensionalität" (nach Max Lüthi) des Märchens auf. (siehe Kapitel 1.5.1.) Stil und Sprache sind einfach gehalten und auf das Wichtigste beschränkt.

Das Märchen beginnt mit der bekannten Wendung "Es war einmal...", die wie in Kapitel 1.7. bereits erwähnt, weniger temporal, als modal zu verstehen ist. Es ist nicht wichtig, wann und ob überhaupt Rotkäppchen gelebt hat. Es folgt eine Beschreibung der weiblichen Hauptperson, "eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah". Rotkäppchen ist verwöhnt und verhätschelt, es erfährt ausnahmslos Zuneigung von allen Seiten. Die "Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte.": Rotkäppchen wird verzärtelt, ein Fehlverhalten in seiner Erziehung, was zu seiner Arglosigkeit und somit zur Katastrophe führt. Das Mädchen wird nicht auf die Gefahr und das Böse vorbereitet. Das Kennzeichen des Mädchens ist "ein Käppchen von rotem Samt", ein Geschenk der Großmutter. Die rote Farbe des Käppchens symbolisiert die Liebe der anderen zu dem Mädchen, aber auch dessen Wunsch, geliebt zu werden und aufzufallen. Rot ist auch die Farbe der Wärme und des Feuers, des Blutes, und somit des Lebens, es steht für die Lust am Leben, das Selbstvergnügen und Ausstrahlung eigener innerer Wärme. Das Käppchen ist aus Samt, ein kostbarer Stoff, und für Augen und Hände schön. Samt ist der Stoff der Reichen und Mächtigen, er dient dem äußeren Schein und übersteigert das Selbstwertgefühl des Mädchens. Rotkäppchen ist eitel: "weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte", aber es ist unschuldig eitel, denn es hat sich das Käppchen ja nicht selbst zugelegt.

Das Mädchen hat keinen persönlichen Namen, es wird das Rotkäppchen genannt aufgrund eines äußeren Kennzeichens. Auch hier wird die Faszination und Verführbarkeit durch alles Schöne deutlich: das Mädchen wirkt nur durch sein Äußeres, von inneren Werten ist nicht die Rede. Die Mutter hat einen Auftrag für ihre Tochter: "Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam, und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in allen Ecken herum." Deutlich in der Befehlsform ausgesprochen wird Rotkäppchen an seine Alltagspflichten herangeführt. Den Weg, den sie wahrscheinlich schon oft an der Hand der Mutter zurückgelegt hat, wird nun im Alleingang zur Prüfung. Kann Rotkäppchen den Gefahren des Lebens trotzen? Der wichtigste Satz in der Rede der Mutter lautet " ... und lauf nicht vom Weg ab". Es bedeutet: Vergiss nicht deine moralischen Verpflichtungen! Das ist die einzige Sicherheit, die Rotkäppchen von der Mutter mit auf den Weg bekommt.

Das "Auf-dem-Weg-bleiben" birgt eine schützende Kraft; wer dem rechten Weg folgt, entgeht Gefahren. Rotkäppchen soll den Weg achten, denn "sonst fällst du und zerbrichst das Glas": Glas als leicht zerbrechbares Material ist Rotkäppchen anvertraut, in ihm befindet sich der Lebenswein für die Großmutter. Rotkäppchen muss eben diesen Lebenswein vorsichtig bewahren. Obwohl Rotkäppchen die Gefilde des Bewährten und Gesicherten verlässt und seine Pflicht vernachlässigt, bleibt das Glas das ganze Märchen hindurch ganz und zerbricht nicht, was das Mädchen von seiner Schuld entlastet. Während das Dorf die Ordnung verkörpert, symbolisiert der Wald die unbekannte und gefährliche Wildheit. Rotkäppchens Versprechen an die Mutter als Antwort auf die Ermahnungen ist mehr förmlicher Gehorsam: bisher ferngehalten von allem Bösen kann es sich Gefahren einfach nicht vorstellen.

Der Auftrag der Mutter an ihre Tochter veranschaulicht die Beziehung der Personen untereinander. Großmutter, Mutter und Tochter stehen in einer Generationenkette. Die Mutter befindet sich hierbei in der stärksten, befehlenden Position. In diesem Märchen tauchen nur die weiblichen Mitglieder der Familie auf, denn die Fürsorge füreinander und somit die Bewahrung des Lebens liegt allein in den Händen der Frauen. Daraus entspringt auch die Pflicht der Mutter und Tochter, sich um die Großmutter zu kümmern. Mit dem Gang zur Großmutter wird Rotkäppchen in den sozialen Dienst am anderen eingeführt. Warum jedoch wird der Begriff "Großmutter" gewählt, anstatt der uns besser bekannten Koseform "Oma"? Und warum wohnt diese Großmutter draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf entfernt? Der Begriff "Großmutter" wurde nicht nur aus dem altertümlichen Wortschatz übernommen, er wird vor allem in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht.

Die "Großmutter" ist die "Große Mutter", die "Ur-Mutter", die Lebensspenderin. Sie ist die, die der Mutter Erde am nächsten ist. Sie wohnt inmitten der Natur, im "Garten" der Natur, im Wald, was an paradiesische Zustände erinnert. Sie hat nie ihr Heim verlassen, ihr Häuschen im Wald ist der Ursitz, der Ursprung der Geschlechter. Ihre Tochter hat sich vom Stammhaus getrennt, sie hat sich abgewandt von der Natur, die sie gebar, sie hat sich losgelöst von ihrer Urheimat. Die Großmutter ist krank und schwach geworden, weil die zweite Generation ihre Reserven aufgebraucht hat und dann fortgezogen ist. Rotkäppchen als Vertreterin der dritten, der jüngsten Generation, tritt versöhnend zwischen der ersten und zweiten Generation auf. Was die zweite Generation an Schuldigkeit gegenüber der Großen Mutter und der Mutter Erde hinterlassen hat, macht Rotkäppchen wieder gut. Seine Bindung zur Großmutter ist stärker als die seiner Mutter zur Großmutter, es lässt die Großmutter teilhaben am dörflichen und familiären Leben, es bringt ihr Kuchen und Wein. Rotkäppchen genießt die Gegenwart der Großmutter: " ... und ich bin sonst so gerne bei der Großmutter!". Rotkäppchen also macht sich auf den Weg zu der von ihm so geliebten Großmutter.

Als es "in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf.". Da Rotkäppchen aber mit dem Bösen nicht vertraut ist, durchschaut es weder den Wolf, der ganz unverdeckt in Erscheinung tritt, noch dessen finstere, böse Absichten. Im Gegenteil: mit freundlicher Offenheit beantwortet es ihm alle Fragen - und liefert somit unwissend seine Großmutter aus. In seiner Antwort auf die Begrüßung des Wolfes nennt Rotkäppchen ihn beim Namen: "Schönen Dank, Wolf."; obwohl es nicht weiß, "was das für ein böses Tier war", weiß sie trotzdem, wen sie vor sich hat. In seiner Ahnungslosigkeit empfindet das Mädchen keinerlei Furcht dem Wolf gegenüber . In dem kindlichen Stolz, von jemandem ernstgenommen zu werden, plaudert es unbefangen mit der ihm gegenüberstehenden Bedrohung. Hier offenbart sich die Schwäche in der Erziehung Rotkäppchens und somit die Schuld der Mutter und der Großmutter an der kommenden Katastrophe. Wenn man bei Rotkäppchen kindliches Alter und Verhalten voraussetzt, so agiert Rotkäppchen normal und unschuldig, wie ein Kind eben in einer ihm unbekannten Situation reagiert: mit Neugier und meist ohne Scheu, also mit kindlichem Gottvertrauen und Nichtwahrnehmen der Gefahr. Die Krise, welche eben dieses kindliche Verhalten auslöst, ist also eigentlich nicht angemessen für ein kindliches Vergehen. Auch hier wird deutlich, dass die Schuld nicht bei dem Mädchen zu suchen ist, sondern bei den Erwachsenen, die mit radikalen Situationen und Gewissenskonflikten besser zurechtkommen als ein kleines Kind. Weshalb erwähnt die Mutter in ihren umfangreichen Ermahnungen nicht die Gefahr des Bösen, welche - verkörpert vom Wolf - im Wald auf ihre Tochter lauert?

Somit unterlässt sie eine Förderung des Selbstschutzes. Rotkäppchen bewahrt zwar seine kindliche und unberührte Unschuld durch seine Unwissenheit, aber es ist nicht gewappnet für ein Leben in der Außenwelt. Glaubt die Mutter, Rotkäppchen würde mit der Situation alleine zurechtkommen? Oder verschließt sie einfach nur die Augen vor den Bedrohungen der Außenwelt. Interpretiert man den Wolf als einen Teil Rotkäppchens, so könnte man das Verhalten der Mutter verstehen. Der Wolf verkörpert Rotkäppchens - bisher verdecktes - Böses; als er sie auffrisst, wird es wieder Teil von ihm, beide Seiten, die sich durch Rotkäppchens Unschuld vorher gespalten haben, werden wieder eins, das Böse gewinnt kurzzeitig überhand. Hier zeigt sich die dialektische Märchenstruktur.

Als Rotkäppchen von dem Jäger wieder befreit wird, ist es sich seiner zwei Seiten bewusst. Warum aber wird dann auch Rotkäppchens Großmutter verschlungen (was in der Erstausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" übrigens nicht der Fall ist, dort ist nur von Rotkäppchen die Rede)? Die Großmutter mit ihrer Erfahrung steht zwischen dem Wolf und dem Mädchen; um das Vertrauen Rotkäppchens zu gewinnen, verkleidet sich der Wolf als das, was dem Mädchen am liebsten ist. Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Theorie vom Wolf als Teil Rotkäppchens stützt, ist die Personifikation des Wolfes: er ist nicht ein zoologisches Lebewesen, sondern ein giergeladenes, seelisches Verführungswesen. Der Wolf tritt abseits von den Menschen im Wald auf, Symbol für die verdrängte Wildheit in Rotkäppchen, in den Menschen überhaupt. Das Mädchen wird sich seiner eigenen Wildheit nicht gewahr im häuslichen Bereich, dazu muss es die menschliche Geborgenheit verlassen. Eine weitere Frage stellt sich bei der ersten Begegnung der beiden Antagonisten: warum verschlingt der Wolf Rotkäppchen nicht sofort an Ort und Stelle, nachdem er alles Nötige erfahren hat? Die Antwort ist in der Unschuld des Mädchens zu finden, welche es wie ein Schutzmantel umgibt. Diese Sicherheit der Unschuld würde dem Wolf nicht bekommen. Er muss Rotkäppchen erst in Schuld stürzen. Sie den mütterlichen Mahnsatz: "Komm nicht vom Weg ab!" vergessen zu lassen, darin liegt die Verführungskunst des Wolfes. Dabei macht er sich Rotkäppchens Schwäche, ihre Vorliebe für und Verführbarkeit durch alles Schöne, zunutze. "Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig draußen in dem Wald."

Als er die Schule erwähnt, benutzt der Wolf den Konjunktiv: die Schule vermittelt zwar nützliche und notwendige Einsichten und Orientierungen, aber sie bedeutet ebenso, daß der Schwerpunkt des Gelernten auf theoretischer Basis liegt. Die praxisnahe Übung im Umgang mit Geboten und Verboten ist der Schule fern, ebenso wie er Rotkäppchen fern ist, als sie mit dem Wolf im Wald ist. Des Mädchens Unerfahrenheit führt zum Schritt vom Wege weg. Der Wolf spricht das Schöne aus und öffnet Rotkäppchen Augen und Ohren, er macht dem Mädchen die Schönheit bewusst und stürzt es dadurch aus dem biblischen Paradies. Es verliert die Unschuld durch die Verführkunst des Wolfes, wie das erste Menschenpaar seine Unschuld durch die Verführkunst der Schlange verlor. Rotkäppchen kann Pflicht und Neigung nicht unterscheiden und abwägen, es folgt seinem Gefühl und taucht in eine bunte, tönende Welt ein. Rotkäppchen verliert sein Ziel und seine Aufgabe aus den Augen. "Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme" entschuldigt Rotkäppchen sein Fehlverhalten und beruhigt dadurch sein schlechtes Gewissen. Diese Scheinargumentation wirkt fast wie ein Alibi.

Dass es allerdings nur eine Scheinargumentation ist, zeigt die Selbstvergessenheit des Mädchens: "Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr." Rotkäppchen entdeckt mit Neugierde das Gelände neben dem Weg, neben Gehorsam und Verpflichtungen; eine bunte, aber auch lebensgefährliche Scheinwelt. Rotkäppchen pflückt Blumen, es verwundet eine Idylle, der es früher einmal, bevor es vom Weg abkam und in die natürliche Unordnung geriet, selbst angehörte, sozusagen als "Menschenblume". Zerstörend setzt es seinen Weg fort, immer tiefer in den Wald hinein, der nicht für den Menschen bestimmt ist. Je mehr Blumen es bricht, desto mehr Schuld lädt Rotkäppchen auf sich. Der Wolf hat sein Ziel erreicht. Ungestört verschlingt er die Großmutter und verkleidet sich; er bereitet sich auf die Ankunft des Mädchens vor.

Der Wolf wechselt seine Rolle, wie er es gerade braucht, er wiegt seine Opfer in Vertrauen und bricht erst dann in ihre Welt ein, in diesem Fall in die häusliche Welt der Großmutter. Als Rotkäppchen am Haus seiner Großmutter ankommt, wird es von einer Angst befallen, die es bisher nicht kannte. Aber Rotkäppchen ist noch zu unerfahren, um auf seine Gefühlsregung zu hören beziehungsweise sie richtig zu interpretieren. Es bemerkt sehr wohl die Veränderung, aber es wird sich derer nicht bewusst. Das "Guten Morgen", das Rotkäppchen beim Eintreten ruft, ist das einzige Überbleibsel aller mütterlichen Mahnungen. Rotkäppchens Wahrnehmungen sind getrübt, geblendet sozusagen vom Schein, den es gerade eben noch im Übermaße erfahren hat, die Konturen sind verwischt. Deshalb ist ihm ein Erkennen der vor ihm liegenden Person nicht möglich. Im folgenden Dialog, der von märchenhaften Wiederholungen geprägt ist und sich somit in Kinderohren besonders gut einnistet, zeigt das Mädchen zwar einen Anflug von Misstrauen, aber das Vertrauen und die Naivität überwiegen dennoch. Als es die Gefahr erkennt, ist es bereits zu spät: "Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen." Rotkäppchen konnte seiner Aufgabe, die Schönheit in Einklang mit seinem moralischen Auftrag zu bringen, nicht gerecht werden.

Die folgende Katastrophe ist kein Schicksalsschlag, sondern - wie im Volksmärchen üblich - die Konsequenz menschlichen Fehlverhaltens. Verantwortlich hierfür sind die beiden erziehenden Generationen Mutter und Großmutter. Durch deren falsche Erziehungshaltung wird der Fortbestand des Lebens aufs Spiel gesetzt; die alte und die junge Generation als Quelle des Lebens und dessen Weiterentwicklung werden für kurze Zeit ausgelöscht. Die Brüder Grimm jedoch vertreten das märchenhafte Vertrauen auf Wiedergutmachung und auf den Schutz des Lebens. Im Gegensatz zu anderen Fassungen des Märchens "Rotkäppchen" ist bei ihnen die Katastrophe prinzipiell umkehrbar. Rotkäppchen und die Großmutter werden entgegen der Ankündigung des Wolfes nicht gefressen, sondern nur verschlungen: ihre Gestalt bleibt erhalten und sie können somit dem Leben wieder zurückgegeben werden. Damit soll vor allem der Schutz des Kindes als Opfer falscher Erziehung gewährleistet werden, denn die Radikalisierung der Krise erfolgt nur aus der Schuld des Erwachsenen, der Frauen.

Da Rotkäppchen und die Großmutter sich nicht selbst durch eigene Seelenkraft aus dem Bauch des Wolfes befreien können, bedarf es fremder Hilfe, welche in Form des Jägers in Erscheinung tritt. Der Jäger ist der Herr des Waldes, er ist Schütze und Beschützer. Er vertritt das männliche Prinzip des Beherrschenden. In diesem Märchen ist er eine ausschließlich positive Gestalt, die einzige männliche, die in die einsträngige Handlung mit eingebaut ist. Da die weibliche Erziehung versagt hat, tritt er nun als Beschützer auf: als Vertreter des Guten jagt er das Böse. Diese Rollenkonstellation entspricht der Realität; in früheren Zeiten galt der Jäger als mutiger Vollstrecker, der sich furchtlos den Wölfen gegenüberstellte, welche in der Bevölkerung Angst und Schrecken hervorriefen.

Im Märchen wird der Urkonflikt zwischen Gut und Böse veranschaulicht. Der Jäger bewahrt das Gestaltete und Geformte, anstatt auf den Wolf zu schießen. Der Jäger vertreibt das Böse aus dem Ursprung des Menschengeschlechts und bewahrt somit die Menschen davor, sich selbst zum Opfer zu fallen. Mit Hilfe seines Intellekts kehrt der Jäger die Katastrophe ins Gegenteil um. Er wird seiner Verantwortung der mittleren Generation, der er selbst auch angehört, für alt und jung gerecht. Mit einer Schere schneidet der Jäger dem Wolf den Bauch auf. Dieses Bild kommt einem Kaiserschnitt gleich: dem Schlafenden wird der Bauch aufgeschnitten und daraus das Leben entnommen. Das erste, was der Jäger entdeckt, ist das rote Käppchen aus Samt, das Kennzeichen des Mädchens. Dem Leben wiedergegeben strahlt es noch lebenslustiger. Beide, Rotkäppchen und Großmutter, erblicken in dieser Wiedergeburt unversehrt das Licht des Lebens.

Hier wird die märchenhafte Botschaft deutlich: jeder, der nicht durch und durch böse ist, hat eine Chance. Als Rotkäppchen aus dem Bauch kommt, meint es: "Ach, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!". Es hat nun also auch die dunklen Seiten des Lebens und in sich selbst kennengelernt. Erlittene Angst lässt den Menschen reifen, und Rotkäppchen erlangt das volle Bewusstsein. Nun kann des Mädchen das Verbot der Mutter konkretisieren und es somit für die Zukunft wirksam machen. Rotkäppchen hat seine Lektion durch die Gegenüberstellung mit elementaren Lebensbedingungen gelernt: "Rotkäppchen aber dachte: ,Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat.’". Somit spricht es die Moral des Märchens aus. Im versöhnlichen Ende "waren alle drei vergnügt": das Böse ist besiegt und auch die Großmutter erholt sich wieder.

Im gefahrfreien Raum kann der Mensch genießen und sich entfalten. Die Rollenverteilung von Mann und Frau schwächt die Schuld der beiden älteren Frauen ab und macht sie verständlich. Während der Frau die Fürsorge und Versorgung obliegt, trägt der Mann die Schutzfunktion. Beide Funktionen sind als gleichwertig zu betrachten, sie ergänzen sich sinnfällig. Da die Frau weniger als der Mann mit der Außenwelt vertraut ist, da sie meist in der Schutzzone des Hauses verweilt (funktionsbedingt), neigt sie zur Unterschätzung von Gefahren. Sie ist umgeben von einer Scheinwelt und hat deshalb auch einen Hang zu Schönem. Trotzdem findet im Märchen keine Rangordnung der Geschlechter statt; die verschiedenen Rollen ergeben sich aus der Bedingtheit der unterschiedlichen Lebensräume.

Die Brüder Grimm fügten zum eigentlichen Märchen noch einen Nachtrag hinzu, der zeigt, dass die Figuren erfahrener geworden sind und dazugelernt haben. Wieder begegnet Rotkäppchen einem Wolf, aber dieser kann ihm nichts anhaben, da es unbeirrbar seinem Weg folgt. Es erkennt nun das Böse in seinen Augen, den Spiegeln der Seele. Bei Tag und auf offener Straße hat der Wolf nun keine Chance mehr gegen den inzwischen gefestigten Charakter Rotkäppchens. Er kann nur in der Dunkelheit wüten oder dann, wann er in das Innere des Menschen einbricht.

Schlussendlich wird der Wolf von den beiden Frauen überlistet, und Rotkäppchen befolgt die Worte, die einst seine Mutter ihm mit auf den Weg gab. Unschuldig, wie es am Anfang ist, verkörpert Rotkäppchen ausschließlich das Gute. Als das Böse in sein Leben tritt, gehen Gut und Böse ein Stück weit nebeneinander her, dann gewinnt das Böse sogar Oberhand. Gegen Ende jedoch wendet sich alles wieder zum Guten, und durch das Wissen um das Böse ist man auch dagegen gewappnet. Rotkäppchen gehört wohl zu den bekanntesten Märchen der europäischen Sammlung, und obwohl es viele Wandlungen durchgemacht und sich immer seiner Zuhörerschaft angepasst hat, ist es doch nach wie vor eines der beliebtesten und lehrreichsten Märchen geblieben. Die typischen Märchenelemente wie Symbolhaftigkeit, Wiederholungen, archetypischen Gestalten etc. lassen sich an ihm aufzeigen. Daß Kinder trotz der brutalen Handlung keine Angst beim Zuhören verspüren, mag an der deutlichen Hoffnungsbotschaft liegen, die auch dieses Märchen vermittelt: Fürchte dich nicht, das Gute gewinnt!

 
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